24. Tag – Khon Kaen – Nong Khai

Ich hänge immer einige Tage mit meinem Reisetagebuch hinterher, so dass ich mich entschieden habe, nun in der Vergangenheit zu schreiben.

Im Reiseführer wurde Khon Kaen als blühende Universitätsstadt angepriesen, doch im schwachen Licht des Morgens saßen wir an einem dreckigen Busbahnhof, der wie jeder Busbahnhof aussah: voll von Halunken ohne Heim, die auf den Bänken im fiesen Neonlicht die Nacht verbringen; an den Wänden klebten Geckos und an den Bahnhofsecken lungerten Taxifahrer, die in der Nacht ein paar Stunden auf Rückbanken ihrer Tuktuks oder Pick Up Trucks geschlafen hatten und nun wieder den Baht hinterher hechelten, oder eher schlurften; an den Straßenrändern putzten Frauen Chilischoten und Bohnen und heizten die Kessel ihrer Garküchen vor. Die Stadt wirkte trist und grau, wie ein Industrienest, in dem man arbeitet und hängenbleibt, aber nicht sterben will. Wir beschlossen so schnell wie möglich weiterzureisen. Der nächste Bus nach Norden ging erst in drei Stunden und so wollten wir unser Glück am Bahnhof versuchen, der leider auf der anderen Seite der Stadt war. Todmüde, jeder einen Rucksack auf dem Rücken und einen auf dem Bauch, liefen wir los, vorbei an den heruntergelassenen Rollläden der noch geschlossene Geschäfte, vorbei an den jungen, barfüßigen Mönchen, die, wie jeden Morgen, bei Sonnenaufgang ihre Essensrunde machten. Da Mönche kein Geld besitzen, schlendern sie in ganz Südostasien täglich bei Sonnenaufgang durch die Straßen und sammeln gespendetes Essen, dass ihnen in ihre bowlingkugelförmigen Schalen gelegt wird oder einfach in Plastiktüten überreicht. Ich habe das Mönchsleben in Thailand bisher immer romantisiert, mir vorgestellt, wie Novizen morgens durch die Dörfer ziehen, vorbei an Büffeln und Reisfeldern, eine große rote Sonne im Rücken. Doch diese Mönche hier liefen barfuß über die mülligen Straßen dieser mittelgroßen Industriestadt, Kakerlaken huschten über klebrige Plastikteller und Cola Dosen, die Autos der frühen Pendler brausten vorbei und die Luft füllte sich langsam mit Smog. Wir setzten uns auf eine Parkbank im Zentrum der Stadt und kramten ein paar Snacks für ein improvisiertes Frühstück aus dem Rucksack. Binnen Sekunden waren wir von streunenden Hunden und feixenden Vagabunden ohne Obdach umringt. Ein verrückt wirkender Mann laberte uns zu und es roch nach aggressiver Stimmung. Streunende Menschen und tierische Streuner der Stadt hatten sich in diesem Park zusammengefunden und fochten erste Kämpfe um die Mahlzeiten der Heilsarmee, die besten Bänke und Bettelplätze aus. Wir fühlten uns fehl am Platz, auch wenn wir selbst irgendwie Streuner waren, verstauten die Snacks in den Taschen und machten uns aus dem Staub. Der Magen protestierte und ich merkte, wie mich eine unendliche Müdigkeit überkam. Wir wollten so schnell wie möglich zum Bahnhof und erreichten ihn wenig später, verschwitzt, fußlahm und bereit, die Stadt mit wehenden Fahnen zu verlassen. Wir hatten verdammtes Glück, denn der 6:18 Zug hatte Verspätung und so verkaufte uns der Mann am Schalter um kurz nach 7 noch zwei Tickets für diesen Zug und wir sprangen mit dem Pfeifen des Schaffners in den Wagon. In den nächsten drei Stunden zogen unzählige Dörfer und eine gelb getünchte Landschaft an uns vorbei. Der Osten ist der ärmste Landesteil. Die Menschen schlagen sich als Bauern durch, doch die Erde ist trockener und das Leben härter als im Rest des Landes. Dafür haben die Menschen sich andere wertvolle Ressourcen bewahrt, eine herzliche Gastfreundschaft zum Beispiel, man meistert den Alltag miteinander und ein Lächeln ist hier auch so gemeint.

In Udon Thani, einer Großstadt südlich von Nong Khai stiegen wieder die Essensverkäufer ein. Diesmal war ihr Angebot besser identifizierbar. Jeder hielt große Stöcke in der Hand, an denen komplette Hühner inklusive Kopf und Füßen klebten, aufgeklappt, aufgespießt, platt gedrückt und braun gegrillt. Wer isst denn um 9 Uhr morgens bitte ein ganzes Huhn? Eine Verkäuferin drückte Karime plötzlich eine Handvoll geröstete Erdnüsse in die Hand, lächelte herzlich und sagte irgendwas nett Klingendes auf Thai. Karime hat einen Schlag bei den thailändischen Frauen. In Chiang Mai hat er einmal nachträglich Rabatt für ein schickes Hemd bekommen, als wir schon längst bezahlt hatten, und den Preis auch ohne großes Rumhandeln vollkommen in Ordnung fanden - und zwar nur, weil die Verkäuferin ihn so hübsch fand. Sie überschüttete ihn mit Komplimenten, gab ihm mehr Wechselgeld zurück als nötig, und sagte: A special discount for a handsome man. Ohhh, so handsome. Dann zog sie mich vor einen Spiegel und verglich meinen und ihren Po, lachte dabei, als sie ihn mit Absicht noch etwas mehr rausstreckte und machte dann im nächsten Moment Witze über ihr kleines Bäuchlein, als wollte sie mir zeigen, dass sie nicht wirklich mit meinem Freund flirtete, sondern nur Freude an einem hübschen, jungen Mann hatte, den sie sich bestimmt vor zwanzig Jahren, als ihr Po und das Bäuchlein noch etwas kleiner waren, auch geschnappt hätte. Dann lachte sie nochmal ganz laut und herzlich und wir winkten uns etwas verlegen aus dem kleinen Laden hinaus.

Endlich erreichten wir Nong Khai. Ich hatte vom Mut Mee Guesthouse gehört und natürlich dauerte es nicht lang, bis uns der erste Taxifaher aufgabelte. Wir mieteten einen Bungalow mit Blick auf den Mekong für 380 Baht. Die Dusche war mit geflochteten Palmenwedeln verkleidet, an denen das Wasser abperlen und abtropfen konnte, auf dem Boden lagen glatte, dunkle Steine. Wir fühlten uns wie Bear Grills in einer selbstgebastelten Dschungeldusche und sahen vor euphorischer Verblendung nicht die vielen Mückenlarvennester an den Wänden. Der Mekong floss orangefarben und schlammig an uns vorbei; auf der anderen Flussseite lag Laos, eine grüne Ödnis mit versprenkelten Tempeln und der Hauptstadt Vietiane in 20 km Entfernung. Wir bestellten uns erst mal ein herzhaftes Frühstück und dösten auf der Terrasse. Die Busfahrt saß mir noch in den müden Gliedern, doch wir rappelten uns auf, liehen zwei Fahrräder und fuhren am Ufer entlang bis zur einzigen, echten Attraktion des Ortes, dem Kunstpark eines laotischen Künstlers, der in den 70er-90er Jahren im Stile eines Gurus viele Menschen um sich scharte, die unentgeltlich Unmengen seiner skurrilen Skulpturen bauten. Die haushohen Buddhastatuen und Gottheiten aus Beton waren bereits weithin sichtbar, angegraute Fremdkörper in der gelblich flimmernden Landschaft, den Zyklus des Lebens darstellend. In einem Haus in der Mitte des Parks lag der Meister höchstpersönlich aufgebahrt. Er hatte sich selbst zur ewigen Skulptur gemacht, sich einbalsamieren lassen und lag nun, sichtbar für jedermann_frau in einem Glassarg im obersten Stock eines quadratischen Betonbaus, umrahmt von Blumen, Kerzen, unzähligen Buddhastatuen und Portraits des Künstlers selbst. Eine unfassbar kitschige Szenerie, in der sein Geist hoffentlich seinen Frieden finden konnte, seine menschliche Hülle jedenfalls bestimmt nicht.

Ich kann bis heute nicht sagen, warum, doch mich beeindruckten die bunten, goldverzierten, spitzdächrigen Tempel schon lange nicht mehr. Alles war zu viel, die Farben, die Muster, die Wandmalereien, die Blumengirlanden und Buddhastatuen. Es war zwar hübsch anzusehen, doch ich konnte es einfach nur kitschig finden. Zudem verstehe ich bis heute nicht die Anbetung Buddhas. Für mich war Buddha ein Asket, ein Mönch, ein junger Adliger, der genug vom Adel, von unverdienten Schmeicheleien und der verlogenen Welt hatte, die ihn von den kargen, bitterarmen, kranken Facetten des Lebens fernhielt. So entsagte er allem, suchte nach seiner Wahrheit, fand sie und erzählte sie weiter - ein Mensch, ein Prophet vielleicht, aber nicht für Gott, sondern für seine eigene Erkenntnis, die Letztendliche, die alles erklärt und nichts hinterlässt. Aber kein Gott. Doch hier lebte man den Buddhismus ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Hier betete man Rosenkränze wie in der katholischen Kirche, hier spendete man Gold und Geld, und opferte Gaben und trug Talismänner und schuf tausende kleine und große Götzen, geschmückt mit Girlanden und Räucherstäbchen. Hier vermischte man Hinduismus, Buddhismus und so viel traditionellen Glauben, dass meine Wohlfühl-Weichspühl-Buddhismus-Idee kaum weiter entfernt sein konnte. Ich weiß nun, dass ich nichts wusste; ich erfuhr, dass ich es vielleicht nicht verstehen werde, dass die Gesänge und Predigten, die über Megafone aus den Tempeln schallten, vielleicht immer fremd für mich bleiben. Es sei denn, ich bliebe hier und lebte das alles nach. So wie Julien und seine Yoga-Hippies aus dem Mut Mee, die uns am nächsten Morgen aus dem Schlaf rissen.

25. Tag – Nong Khai

Ich erwachte zerknirscht unter'm Moskitonetz und hörte Stimmen hinter unserem Bungalow. Plötzlich spielte jemand Gitarre und eine Männerstimme sang in einer mir unverständlichen Sprache Kindermelodien, sich wiederholend, immer wieder die gleichen Worte, die gleiche Melodie, bis alle anderen eingesetzt hatten. Die Dialekte waren unverwechselbar westlich, die Stimmen und der monotone Singsang hatten diese typisch westliche Zurückhaltung in sich, dieses gebremste, verkopfte, seichte, vorsichtige Singen, dass man noch aus den Musikkursen aus der Schulzeit kannte. Ich fand das ganze unglaublich peinlich und konnte sie mir vorstellen, wie sie da sitzen in ihren orientalischen Pluderhosen, barfuß und esoterisch versunken, ihre Köpfe hin und her schwenkend, die Augen geschlossen. Ganz entspannt im hier und jetzt, und so. Verdammt, mit Anfang 20 war ich genauso. Las alles, was Hermann Hesse jemals geschrieben hatte, und jetzt machte ich mich darüber lustig. War ich schon so verroht vom Leben? Schlauer oder dümmer als früher?

Karime war inzwischen auch wach und wir machten uns einen Spaß daraus, den muslimischen Muezzin-Gebetsruf in voller Lautstärke auf dem Handy abzuspielen, in seinen schönsten Youtube Varianten. Draußen hörten wir irritiertes Räuspern und Verstummen. Wir lachten bei dem Gedanken, wie unsere entspannten Yogafreunde nun mit aller Kraft ihren Zorn unterdrückten, sich bloß nichts anmerken lassen wollten, weil ja alle ganz peacy happy Hippies waren. Und nach ein paar Minuten ging ihr verkrampftes Yogi-Gesinge weiter als wäre nichts gewesen. Wir hörten weiter dem Muezzin zu, der aus vollem Herzen, mit wunderbarer, fester Stimme seinen Gott anrief, und dem man das einfach abnehmen musste. Erzähle mir vom Leben, mit ehrlicher, fester Stimme, sei intensiv und gnadenlos mit dir selbst, sei verrückt, und ich höre zu. So ist das. Das ist meine persönliche Suche.

Wir wussten, dass heute unser letzter Tag im Nord-Osten sein würde. Wir würden morgen an den Golf fahren und die Berge, Flüsse, den schlammigen Mekong, die Reisfelder und Bauern mit ihren Strohhüten, die endlosen Urwälder, die Wasserfälle und heißen Quellen, die schmalen Bergstraßen, die tristen Highway Dörfer und verschlafene Örtchen der Bergvölker hinter uns lassen. Wir wollten ans Meer, nichts konnte uns davon abhalten, endlich ans Meer zu fahren. Endlich wieder zu zweit reisen. Totti und Philipp waren jetzt schon weit weg. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, haben uns in Thailand besser kennengelernt, als wir das in Berlin je geschafft hätten, doch nun war es wieder unsere Reise, unsere Geschwindigkeit, und wir wollten weiter.

An diesem letzten Tag rollten wir auf Fahrrädern noch einmal durch die Mekong-Ebene. Vorbei an der Freundschaftsbrücke, wo ich mit meiner Schiebermütze mit dem draufgestickten roten Stern hoch über dem Fluss vor der laotischen Fahne für ein Foto posierte, vorbei an den Bauern, die ihren trockenen Feldern mit harter Arbeit Feldfrüchte abrungen und uns herzlich zuwinkten, sobald sie uns erblickten, vorbei an den Holzhäusern auf ihren langen Stützpfeilern, vorbei an den Fischzuchtnetzen, den schmalen Wassertaxibooten, den kleinen Tempeln und kargen Mönchshütten. An jeder Ecke dösten streunende Hunde im Schatten. In Thailand leben die entspanntesten Hunde der Welt. Sie werden nie verscheucht, nie getreten, nie angeschrien, nie angeleint. Sie werden nicht verwöhnt, aber geduldet, ab und zu getätschelt, und vor allem in Frieden gelassen. Die Hunde und Katzen sind Teil der Gemeinschaft der Lebewesen und werden als solche geachtet. Straßenhunde in Marokko sind ängstliche Kläffer, die sich in Rudeln verbünden, ums Überleben kämpfen, die gezeichnet vom Leben schnell jaulend den Schwanz einziehen oder knurren. Die Hunde hier schliefen den ganzen Tag. Zwischen 12 und 4 schliefen auch alle Menschen, die Straßen waren wie ausgestorben, ab und zu fuhr ein Pick Up vorbei und wirbelte ein bisschen Staub auf. Ich kaufte mir Tomaten und Cracker am Straßenrand und beobachtete Karime, der Fotos von einem einsamen Tempel schoss. Zwei Straßen weiter dressierten ein paar Halbstarke eine jungen Affen, der an seiner Leine zog und an einer Banane kaute. Geht's um's Geld oder Essen, vergessen auch die Thailänder ihre Tierliebe.

Am Abend roch unser Bungalow plötzlich unangenehm nach Schwefeldioxid. Vielleicht war auch einfach die Klärgrube übergelaufen, jedenfalls konnten wir es keine Minute länger ertragen. Vor der verschlossenen Rezeption traf ich Mike, den Amerikaner. Der war hier wohl irgendwie hängengeblieben und verdiente sich als Aushilfe ein paar Baht dazu. Er hatte bereits ein paar Bier im Kopf, doch beschloss sofort uns zu helfen. Nach ein paar Minuten erschien er freudestrahlend mit dem Schlüssel des einzigen noch freien Zimmers und wir verbrachten unsere letzte Mekong-Nacht in der schönsten Suite des Bungalowdörfchens, vielleicht in der schönsten Suite dieser Reise. Bisher.

26.Tag – Nong Khai – Pattaya

Nach 5 Stunden Schlaf verließen wir unsere prächtige Suite auch schon wieder und kauften in der Morgendämmerung ein Bus-Ticket, das uns so weit wie möglich nach Süden bringen sollte: nach Pattaya.

Die Busse hatten am Abend zuvor fantastisch ausgesehen, mit riesigen, verstellbaren Sesselsitzen und Fernsehbildschirmen, alles modern und sauber. Unser Bus war leider eine marode Katastrophe. Alle paar Kilometer fiel die viel zu kalte Klimaanlage über unserem Sitz aus ihrer Halterung und arktische Kälte blies uns aus dem klaffenden Loch entgegen. Es gab keinen Stauraum für unsere Rucksäcke und als nach dem dritten Halt bereits alle Plätze belegt waren, stopften wir die Rucksäcke in eine dreckige Ecke hinter dem letzten Sitz. Ein übler Ammoniakgeruch stieg aus der Toilette hoch und verbreitete sich im Bus. Die Front- und einige Seitenscheiben waren zersplittert. Den Busbegleiter interessierte das alles wenig. Der Bus hielt in jedem Kaff, wir hatten ganz offensichtlich den billigsten Überlandbus erwischt und hockten 15 Stunden mit eingequetschten Beinen, das Gesicht mit einem Halstuch vermummt, im Uringestank. Eigentlich hätten wir sofort wieder aussteigen müssen. Doch es war die perfekte Einstimmung auf Pattaya.

Um 22 Uhr lies uns der Bus an einer Hauptstraße raus. Wir waren komplett orientierungslos. Laut Kompass sollte es auf der anderen Straßenseite Richtung Strand gehen. Doch kein Weg führte über diesen verdammten Highway. Nach mehr als einer Stunde erreichten wir die Boakao Soi 13 Straße, eine Höllenmeile. Wir suchten nach einem Hostel und fanden nur Gogo-Bars, besoffene, hellhaarige Männer, umgarnt von thailändischen Frauen in Miniröcken, Neonschilder auf Russisch und Deutsch, lautes Gegröle; hupende Autos rasten an uns vorbei. Ich dachte an das biblische Sodom und Gomorrha und alle Gesichter verzogen sich zu Fratzen. Wir fanden ein Backpacker Hostel und man bot uns ein Bett für 350 Baht an, in einem 18 Betten-Schlafsaal. Wir lehnten ab. Unsere Laune war auf dem Tiefpunkt. Karime warf frustriert den Rucksack auf die Straße und verkündete, dass er nun sofort ein Taxi zum Hilton nehmen wollte, selbst wenn es tausend Euro kostete. Die Stadt war drauf und dran uns den Nerv und die Reisekasse zu rauben. Mit letzter Kraft zog ich ihn in ein Hotel, wo wir ein überteuertes Zimmer für 1200 Baht buchten und eilig im Schlafsack verschwanden. Mit hungrigem Magen starrte ich an die Decke und rief kurz meine Eltern an, so wie ich es versprochen hatte. Aus dem Zimmer über uns drang ein Stöhnen, das eklige, lieblose Stöhnen zweier Menschen, wie man es jede Nacht überall in Pattaya hört. Ich hatte plötzlich unfassbares Heimweh und brachte es nicht über's Herz, meinen Eltern am Telefon zu beichten, dass wir zu Weihnachten nicht zu Hause sein werden.

27. Tag – Pattaya – Trat

Wir mussten erst um 12 Uhr aus unserem Hotel raus und so wollten wir der Stadt eine Chance geben und schlenderten runter zum Strand. Wir entdeckten, dass unser kleines Ressort, in das wir gestern Nacht um 23 Uhr noch eingecheckt hatten, einen Pool hatte. An jeder Ecke lag ein einsamer Mann auf einem Liegestuhl oder im Wasser, der haarige Bierbauch hing über der zu kleinen Badehose; mit ungelenken, dicken Patscheärmchen versuchte sich ein besonders käsiger Mittfünfziger den Rücken selbst einzucremen. Er war sicher erst ein paar Tage in Thailand, allein, Reiseendziel Pattaya. Alle sind allein in Pattaya. Auf dieser endlos oberflächlichen Riesenparty. Am Strand, oder an dem 2 Meter breiten Stück Sand zwischen der Beach Road und dem Wasser, türmte sich der Müll der Vornacht. Gestern hatte hier eine Feuerwerksmeisterschaft stattgefunden. Als wir die Stadt erreichten, knallte gerade das Finale in den Himmel. Es hätte alles so schön sein können, wären wir im Hellen angekommen und hätten wir ein schönes Hotel gehabt, dann hätten wir am Strand gesessen, die Raketen wären über unseren Köpfen in tausend Farben explodiert und wir hätten uns bei einer Cola über die Männer lustig gemacht, die hier manisch durch die Straßen wetzten, auf der Suche nach der schnellen Liebe. Doch der Spaß war uns vergangen. Pattaya und wir, daraus wurde nix mehr, unsere Chance war verpufft.

Wir hatten genug gesehen, schnappten die Taschen und fuhren zurück zum Highway, an dem wir gestern abgesetzt wurden. Nach einigem Rumfragen und Rumsitzen hielt ein Minivan Richtung Rayong. Das war zwar nicht sehr weit weg, aber vor allem weg und unsere Richtung. Wir wollten nach Osten, nach Ko Chang und stiegen erst mal ein. In Rayong ging es auch direkt weiter, wir stiegen aus und sofort in den nächsten Van, diesmal Richtung Chantaburi. Auch dieser Fahrer fuhr wie ein Teufel. Vermutlich wollte er die Strecke heute noch ein paar Mal fahren, immer bis zum letzten Sitz voll, und so rasten wir mit hundert Sachen durch die Städte, überholten links, überholten rechts, überfuhren rote Ampeln. Jeder fuhr hier über rote Ampeln. In Chiang Mai wäre ich einmal fast um ein Haar überfahren worden. Ich hatte grün und konnte den Wagen gerade noch an meiner Pluderhose vorbeizischen spüren. Meine Knie waren danach eine Stunde lang weich wie Pudding.

In Chantaburi ging es dann direkt in den dritten Van. Nach insgesamt knapp 5 Stunden erreichten wir Trat. Es dämmerte und wir beschlossen zu bleiben. Eine junger Typ mit Baseball Kappe und einem freundlichen Gesicht gab uns ein Zimmer über einem Internet Café für 200 Baht (Sawasdee Guest House). Es war mit Teakholz verkleidet, wir hatten ein Bad und eine Dusche und der junge Mann selbst schlief unten im Café auf einem schmalen Bett.

Wir hatten keine Lust auf ein Restaurant und kauften wieder dutzende Plastiktüten voll Snacks auf dem Nachtmarkt. Ich knabberte frittierte Maisbällchen, Gemüse, Reis, Mango, Ananas, Papaya und Trauben, Karime aß wie fast jeden Abend ein Hühnchen mit Reis.

Wir liefen an einem Reggae Klamotten Laden vorbei. Ich lukte ins Fenster und sah eine Runde bunter Leute um eine Shisha herum, einer von ihnen winkte mir zu. Ich winkte zurück, lief weiter und ärgerte mich direkt. Das war genau das, was ich jetzt brauchte, einen Drink, ein bisschen Musik, ein paar Leute, die was zu erzählen hatten. Er erfand einen Vorwand um umkehren zu müssen und der winkende Typ sprang diesmal gleich zu uns vor die Tür. Karime konnte nicht nein sagen. Wir schlüpften aus den Flip Flops, denn in Thailand lässt man die Schuhe draußen, auch vorm Laden an der Ecke. Drinnen saßen Han, der stolze Ladenbesitzer, und seine Freundin Lu, Sasha, der lachende Franzose mit den Rastas, ein zugedröhnter Kerl, den alle den „Amerikaner“ nannten, der aber einen russischen Akzent hatte und Jesper, der Däne, ein Wahnsinnstyp. In den nächsten fünf Stunden erzählte Jesper Karime seine gesamte Lebensgeschichte. Es war perfekt, da Karime sowieso nicht so unfassbar gern aus dem Nähkästchen plauderte, Jesper dafür umso lieber, und in Karime damit den besten Zuhörer gefunden hatte. Ich quatsche zunächst mit Sasha und konnte im Augenwinkel sehen, wie Jesper wild gestikulierte, lachte und Karime dabei immer wieder auf dem Oberschenkel haute. „Yeah man, great man, that's it man.“ Jesper war seit den 90ern unterwegs in der Welt. Er war 44 Jahre alt und sah aus wie ein Hooligan mit seinen raspelkurzen, blonden Haaren, den tattoowierten Oberarmen und dem hautengen, dunklen Unterhemd. Auf den Straßen in Pattaya hätte ich ihn zu den Fratzenmännern gezählt. Jesper sprach fließend Thai und lebte hier in Trat mit seiner thailändischen Freundin und deren Sohn. Drei Jahre lang hatte er sie jeden Abend auf dem Markt besucht, wo sie als Verkäuferin arbeitete. Drei Jahre gab er nicht auf, doch sie wollte nichts von ihm wissen, und er wusste auch warum. „Guck mal, so wie ich aussehe; ich trage immer diese Unterhemden; in den anderen, man, da schwitze ich. Dann hab ich da Schweißflecken. Nee, man, immer so, und dann mit den Tattoos, ich hätte mir auch nicht getraut.“ Er lachte wieder laut und schlug Karime auf den Oberschenkel. Nach drei Jahren bekam er seinen ersten Kuss. „Aber dann die ganze Portion, du verstehst schon. Ich habe ihr gezeigt, wie man eine Frau liebt. Die ganze Nacht, man! Sie kannte das gar nicht. Sie war geschieden, ich glaub, sie hatte noch nie einen Orgasmus, man! Richtig Liebe machen, man, du weißt schon.“ Und so weiter und so weiter. Karime und ich feierten ihn die ganze Nacht. Seit 13 Jahren lebte er jetzt in Thailand, half seinem Stiefsohn jeden Abend bei den Hausaufgaben und feuerte ihn beim Fußball an, der FC Trat war sein Club, beim Motorradfahren ließ er ihn vorne fahren und wenn die Mama nicht guckte, durfte der Kleine das Lenkrad halten. Wenn er Geld brauchte, reiste er ein paar Monate nach Dänemark und baute Häuser. Oder heuerte auf einem Fischkutter an. Er hatte noch ein Haus auf dem dänischen Festland und gab uns seine Adresse. „Kommt vorbei, jederzeit, man, ihr könnt bei mir wohnen.“ Ich warf alle, na gut, die meisten Vorurteile über Männer mit thailändischen Frauen über Bord. Jesper war ein klasse Typ mit einem riesengroßen Herz.

Spät in der Nacht fuhren wir alle in eine Reggae Bar am Rande der Stadt. Karime und ich hatten jeder ein Bier und mindestens drei Hong Tong Whiskey Cola getrunken. Wir hatten drei Roller und waren neun Leute. Passte also perfekt. Jesper ließ seinen Motor heulen und winkte Karime ran. Eine Sekunde später brausten er, Sasha und Karime, der die beiden von hinten wie ein Koalabär umklammerte, an uns vorbei. Karime, der immer so vernünftig ist, angetrunken auf einem Roller mit zwei verrückten Lebemännern, die wir erst seit ein paar Stunden kannten: Ich war beeindruckt und betete, dass ihm heute Nacht nichts passierte, weil diese Nacht die Chance war ein bisschen wildes Leben zu kosten und ich hoffte, es würde ihm schmecken. Ich schwang mich hinter Lu und ihre Freundin und wir düsten hinterher. Die Straßen waren dunkel und einsam, kein einziges Auto kreuzte unseren Weg, diese Nacht ließ uns in Ruhe und sicher feiern. Die Bar war gut gefüllt, eine Band spielte Thai Pop und Rock Musik und Sasha, der immer lachte und minütlich mehr Thai lernte, sang laut mit, forderte die Mädchen zum Tanz auf, jubelte und klatschte wie wild und war der unumstrittene Mittelpunkt der Sympathie. Wir tanzten bis spät in die Nacht. Jesper bestellte noch eine Flasche Hong Tong und redete und redete. Karime, zufrieden lächelnd, hörte gerne zu, dankbar nicht auch noch tanzen zu müssen.

Irgendwann fuhren wir wieder zurück und rempelten wie drei hungrige Musketiere gemeinsam mit Sasha in einen Laden, der uns zu später Stunde noch warme Sandwiches verkaufte. Sasha nahm seines und verschwand torkelnd im Dunkel der Nacht. Er war eine leuchtende, immer positive Seele von einem Mensch. Wir liefen zu unserem Gasthaus, zogen den furchtbar quietschenden Rollladen nach oben und dann wieder runter, stolperten fast über unseren schlafenden Hausherrn und krochen unter die Decke für eine weitere kurze Nacht auf dem Weg irgendwohin. Morgen würden wir hoffentlich ankommen, in Ko Chang, und da wollten wir bleiben, mindestens ein paar Tage.


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