23.11. Varanasi am Abend

Am Abend brechen wir zu einer Bootsfahrt auf. Unser Bootsführer rudert den Fluss hinauf, während meine Gedanken auf den vorbeiziehenden Tempeln und Ufertreppen ruhen und mir fällt auf, wie sehr mich diese Reise fordert. Setze ich einen Fuß auf die Straße, bin ich nicht mehr allein. Menschen grüßen, fragen, wollen meine Aufmerksamkeit, unentwegt muss ich Angebote ablehnen oder annehmen, je nachdem. Doch manchmal möchte ich so gern ein heimlicher Beobachter sein. Karime und ich, wir werden fotografiert, angelächelt, begrüßt, ausgefragt, manchmal auch verfolgt. Wir möchten natürlich immer freundlich sein, schließlich sind wir es, die gekommen sind um zu gucken. Doch hier im Boot, da sind wir plötzlich die heimlichen Besucher und diese Perspektive ist für den Moment extrem reizvoll.

Wir gleiten also still nach Norden, am linken Ufer wimmelt es auf den Ghats, die Öfen und Scheiterhaufen der Stadt pusten ihren Dunst in den Himmel, die Drachen flattern; am rechten Ufer ist nichts. Wirklich nichts, nur Sand und Horizont. Wie Budapest, nur ohne -pest. Wie Dresden ohne Neustadt und auch ohne Augustbrücke. Will man rüber, muss man rudern. Doch es gibt nichts zu gucken, also gucken wir wieder nach links. Neben mir sitzt eine Touristin mit Mundschutz. Sie hat Bronchitis. Zum zweiten Mal auf dieser Reise. Wir beglückwünschen uns gegenseitig und husten nun im Duett.

Unser Guide ist einer dieser Guides, der dir genau das erzählt, was du siehst. Wir lernen, dass wir auf Tempel gucken und auf Treppen und dass wir in Varanasi sind. Dann singt er ein schönes indisches Lied und für ein paar Minuten versinkt jeder still für sich im Traumland und ich schiele heimlich rüber zum schelmischen Guide, der vielleicht gerade ein Lied über seine Liebe trällert, denn was wissen wir schon.

Die Sonne neigt sich gen Horizont und wir erreichen unser Ziel, das DashashwamedhGhat am nördlichen Flusslauf. Hier findet allabendlich das GangaAarti Ritual statt, ein spektakuläres Pooja-Gebet, eine Segnung zu Ehren Lord Shivas, des Ganges, der Sonne und des Feuers. Tausende Menschen haben sich am Ufer versammelt und unser Boot quetscht sich zwischen dutzende Kähne, die bereits eng an eng und vollbesetzt mit Zuschauern auf die besten Plätze drängen. Die seichte Bootsfahrt ist mit einem Schlag vorbei. Mit Einbruch der Dunkelheit werden unzählige Kerzen auf mehrstöckigen Silberleuchtern entzündet. Gesang und Trommelklänge beschallen das Ufer, überschlagen sich von allen Seiten, vermischen sich zu einem betörenden Lärm. Vor fast genau vier Jahren, am 7. Dezember 2010, explodierte hier, bei so einer Zeremonie, eine Bombe, verletzte mehr als drei Dutzend Menschen und tötete zwei. Zwei weitere von mindestens 30 Terroropfern seit 2006.Am Tag zuvor hatte sich der Anschlag auf dieBabri Moschee der Stadt Ayodhya gejährt. 1992 machten Hindunationalisten dort die fast 500 Jahre alteMoschee dem Erdboden gleich. Hindus und Moslems begannensich daraufhin gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Innerhalb weniger Tage waren über 2000 Menschen tot, die Mehrheit davon Muslime; Hindus flohen aus Pakistan, in Bangladesh brannten die Tempel, in Mumbais Dharavi Slum zerteilten plötzlich Mauern zuvor gemischte Viertel der beiden Religionsanhänger. Viele dieser Mauern stehen bis heute.Aus Nationalismus wurde Hass und Provokation, Rache und Racheopfer, Teilung und Terrorismus. Doch ein Stein bringt sich selten von allein ins Rollen. Bereits die europäischen Kolonisatoren haben hier ordentliche Brocken in die Spirale geworfen.

Am Ufer schwingen die Zeremonienmeister die Räucherlampen. Trommelklänge und grelle Glockenschläge kriechen in mein Ohr und vertreiben die morbiden Gedanken. Wir schaukeln sachte im Boot, schauen fasziniert auf die synchronen Bewegungen der fünf Hindu-Priester, welche inzwischen mit schweren Kerzenständern kreisförmige Bahnen in die dunkle Nacht zeichnen. Unser Guide besorgt Kerzen, welche wir anschließend Mutter Ganga opfern und so wie alle Betenden um uns herum in den Fluss setzen. Trotz des großen Spektakels habe ich zu keiner Zeit das Gefühl, das hier reiner Touristenzirkus stattfindet. In unseren Nachbarbooten sitzen ganz im Ritual versunkene Männer und Frauen mit leuchtenden roten Punkten auf der Stirn und schauen hingebungsvoll zu den Priestern empor. Jeden Abend wird hier Lord Shiva und Mutter Ganga geopfert;jeden Abend strömen tausende Menschen ans Ufer, unzählige Kerzen gleiten den Fluss hinunter, unzählige Male werden die Glocken angeschlagen, immer wieder, im traditionellen Takt.

Wer kann behaupten, dass es nicht genau diese Religiosität ist, die einen großen Teil der Faszination an Indien ausmacht?Sicher ist auch die Erfindung des Naan Brotes und der Currysoße nicht zu verachten, doch denken wir an Indien, so schleichen sich fantastische Bilder von Shiva Statuen, vom TajMahal, von einem in sich versunkenen Buddha unterm Bodhi Baum und von langhaarigen Yogis in unsere Gedanken. Laufe ich durch die Straßen, sehe ich Frauen in Saris oder Burkas, Männer mit weißen Aschestreifen auf der Stirn oder verzierten Käppchen auf den Köpfen; ich sehe ganz in weiß gehüllte Jains und junge Mönche in orangen Roben. Ich würde gern vergessen, wieviel Blut hier 1992, 2006, 2010 und all die anderen Jahre vergossen wurde. Würde gern vergessen, dass sich zu diesem Zeitpunkt Menschen in Deutschland auf ‚Pegida‘ Demonstrationen versammeln undReligionskriege beschwören möchten. In China sah man einmal die Lösung im Ausmerzen alles Religiösen. Und auch in meinem heimatlichen Teil des Ostblocks hätte das fast funktioniert. Und jetzt schimpft mich naiv, aber vermutlich bin ich genau daher so fasziniert -weil hier, vor meinen Augen, so deutlich Sinnsuche zelebriert wird, ich ungeniert zuschauen undlernen darf, was der Frau im blau-goldenen Sari im Boot neben mir wichtig ist. Menschen sammeln Erklärungen für die Welt, suchen Bedeutung, Regeln und ein Modell, nachdem sich ein Leben ausrichten lässt, sei es nun religiös, philosophisch, politisch oder wirtschaftlich. Fast jeder Mensch glaubt an irgendein -tum oder -ismus,ob nun z.B. Christentum, Patriotismus oder Kapitalismus (auch in Kombination) und kann je nach Schweregrad der Überzeugung ganz darin aufgehen, sich an Gleichgesinnten und immer wieder auch der Ausgrenzung des ‚Anderen‘ erfreuen. Das wird sich wohl nie ändern. Ich möchte gern verstehen, was den nächsten Menschen neben mir umtreibt. Warum er oder sie Dinge so tut. So wird dieser Mensch zum Individuum. So ist er oder sie nicht einfach Hindu oder Moslem, sondern ein Mensch, der in seinem Leben einige Fragen mithilfe seines Glaubens klärt, sein Glück damit sucht, aber auch mithilfe anderer Aspekte seines Lebens.

Wir rudern zu unserem Anlegeplatz zurück. Ich bin randvoll mit Eindrücken, will alles aufschreiben, doch meine Wortewollen Logik in die Sache bringen, meine Logik, und das geht nicht. Ich will gern mit kindlichen Augen schauen. Einfach ganz unwissend, ohne Gedanken andere Menschen kennenlernen und ganz ohne Bewertung sehen.Weil auch sie vermutlich nur ein glückliches Leben möchten, ein sinnvolles Leben, oder vielleicht auch nicht? Ist das schon wieder meine Logik? In Bhutan gibt es ein Bruttonationalglück. Zählt das nur für Bhutaner? Vielleicht muss ich da mal hinfahren.

24.11.14

Varanasi weckt unsere Lebensgeister. Wir sitzen noch vor Sonnenaufgang wieder in unserem kleinen Holzkahn und rudern den Fluss hinauf. Na gut, wir werden gerudert. Unser neuer Guide hat zur Verstärkung seinen 70 oder 80 jährigen Vater mitgebracht und lässt ihm – ganz aus Respekt vor dem Alter – fast die gesamte Zeitden Vortritt. Der ältere Herr rudert uns nun zwei Stunden durch die Gegend und schweigt. Kein Mucks ist seinem Mund zu entlocken.
Mönche recken bereits ihre Glieder am noch dunklen Ufer und beginnen gemeinsam den synchronen Frühsport. Es ist bitterkalt, doch sie springen barfuß über die Fußplatten, bekleidet nur mit einer um die Schulter geworfenen Robe. Drei Schritte weiter schwingen Wäscher Tücher und Hosen durch die Luft und klatschen sie immer und immer wieder auf die Waschsteine. Wir fühlen uns wie tollkühne Reisende und rudern, eingepackt in dicke Globetrotter Fleece Jacken, an Menschen vorbei, die um 6:00 morgens, nur mit einer nassen Hose bekleidet, knietief im Ganges stehen und arbeiten. Werden gerudert. Das Weltenbummler-Ego ist meist vor Beginn der Reise am größten.
Neben dem Verbrennungs-Ghat fahren wir an zwei Männern vorüber, einem Priester und, wie uns der Guide erklärt, einem Trauernden, welcher ein Waschritual vollzieht. Der dünne Mensch bibbert bis auf die Knochen und taucht tapfer mehrmals komplett unter. Er bibbert wirklich herzergreifend und freut sich sicher auch schon auf seine warme Kleidung. Das verkleinerte Ego ist etwas besänftigt.
Die Sonne steigt derweil Stück für Stück in den Himmel. Möwen flattern um unsere Köpfe, die ersten Shoppingboote kleben sich an unseren Bug, gefüllt mit zahllosen Stein-Ganeshas, Opferkerzen und Räucherstäbchen. Der Arbeitstag ist nun in vollem Gange. Zeit für uns zwei Helden zu frühstücken.
Am Mittag geht es auf Tempeltour durch Varanasi, was hier in der heiligen Stadt umso mehr ein Erlebnis ist, da ganze Familien gemeinsam anreisen, sich die Köpfe kahl rasieren und hingebungsvoll die großen phallusförmigen Lingamstatuenmit Blumen schmücken, mit Kokosmilch einreibenund anschließend mehrfach umrunden, und an diesem Tag zudem heimlich beobachtet von uns. Unser Rikschafahrer wurde uns von einem derstets im Gästehaus umherschwirrenden Herren vermittelt, von einem sehr aufgeweckten, geschniegelten Servicemann mit perfekt gegelten Haaren und geschwärztem, fein geschnittenen Bärtchen, der uns gern noch viel mehr vermittelt hätte: Touren, Tauschgeld, Flugtickets oder ein Taxi zum Flughafen zum Beispiel. So landen wir dann am Ende unserer Tour auch nicht direkt in unserem Viertel, sondern ganz zufällig in seiner Nachbarschaft bei einem Freund, der zufällig Seidenhändler ist und uns direkt in seinen Laden einlädt. Wir haben wenig Wahl und lassen uns Stickereien und Werkstätten zeigen, sitzen auf kleinen Schemeln und begutachten zig Wandvorhänge und Tischdecken, die endlos lang an uns vorbeiparadiert werden. Wir können nicht einmal in unsere Muttersprache wechseln und den Laden heimlich etwas veräppeln, denn der smarte Händler spricht unter anderem fließend Deutsch. Am Nachmittag erreichen wir erschöpft das Gästehaus. Ich mach mir in den nächsten Tagen einen Spaß daraus unseren gegelten Mann nach Angeboten auszufragen ohne jemals etwas zu buchen. So stehle ich etwas Zeit von ihm zurück.
Wir verbringen unseren Nachmittag an den Ghats mit dem Ablehnen von Bootsfahrten, Haschisch, Handmassagen, Chai, Kerzen und Seidenschals. Ich sehe einen grob zusammengeflickten Kopf aus den Feuern ragen. Und kleine Jungen, welche Aschereste im Ganges waschen, zu Bündeln binden und wegtragen. Die Familien der Bestatteten werden diese Bündel in die Bäume hängen, 10-12 Tage lang. Erst dann werden auch die letzten zwei Handvoll Aschereste eines Menschen im Ganges versenkt.

25.11.14

Waschtag. Karime verschwindet mit dem Sonnenaufgang, findet neue Freunde unter den Wäschern am Ghat und darf sie filmen. Anschließend relaxt er mit einigenSadhus, die vom Haschisch zugedröhnt den Tag dahinziehen lassen. Die Robe des einen Babas ist so löchrig und abgenutzt, dass Karime beschließt ihm trotz seiner augenscheinlich asketischenGlückseligkeit einen Wunsch zu erfüllen. Er schenkt ihm einen leuchtend orangen Umhang und der Sadhu erwidert das Geschenk mit dem glücklichsten Lächeln, das Karime wohl in Indien sehen durfte. Nun zelebrieren die beiden ihre Freundschaft bei einer gemeinsamen Tasse Tee, gebrüht direkt am Ufer des Ganges, mit Wasser aus dem Ganges, und wer Karime kennt, weiß, wie sehr er diese Tasse genießt, und all ihre kleinen Bazillen, Bakterien, Mikroben und die weiteren Bestandteile des gesunden Gangeswassers.
Auch ich wasche meine gesamte, spärliche Garderobe und hänge sie anschließend auf das Dach unseres Gästehauses, setze mich darunter und lese – beobachtet von einem Äffchen, das ab und zu dicht an mir vorbeiklettert -stundenlang Bücher, welche ich auf den Tauschregalen der Hostels gefunden habe. Auch ich würde gern Varanasi erobern, einfach durch die Gegend ziehen, Menschen kennenlernen, jedem dritten ChaiWallah einen Tee abkaufen, auf den Stufen am Ganges sitzen, die Kühe vorbeiziehen lassen. Doch meine Lunge pfeift noch immer bei jedem Auf- und Abstieg, die Stufen sind steil und die Wege lang und verwinkelt. Ich lese Siddharta. Trotz allem bin ich überglücklich. Ich will heute eigentlich nichts erobern. Ich sitze auf einem Dach in Varanasi, mit einem neugierigen Äffchen, das an seinen gepflückten Früchten kaut und lass mir die Sonne ins Gesicht scheinen.

26.11.14

Karime hüpft um 6:30 aus dem kalten Bett, schnappt sich die Kamera und ist Minuten später schon wieder in Varanasis Gassen verschwunden. Diese Stadt weckt eine ungeheure Neugier in ihm. Ich merke, wie sein Künstler-Ich förmlich aufblüht, alles aufsaugt, sammelt, sammelt, sammelt, lauter Geschenke sammelt, geschenkte Bilder und Ideen. Nichts ist Arbeit. Alles ist Lust. Ein Segen.
Ich leiste der aufgehenden SonneGesellschaft auf unserem Dach und lese. Gegen 9 Uhr laufe ich mit meinem Laptop unter dem Arm über die Terrassen am Fluss hinauf zur Lotus Lounge und während mein Blick stundenlang zwischen meinen Tasten und den Cricket spielenden Jungen am Fluss hin und herwandert, tanzen die Sonnenstrahlen einen gemütlichen Bogen von meiner linken zur rechten Wange und schenken beiden wieder eine etwas gesündere Farbe.
Am späten Nachmittag kommt Karime, hibbelig, glücklich; die Geschichten platzen förmlich aus ihm heraus. Ich schnappe mir mein Notizbuch und schreibe mit, während er vor Aufregung auf dem Lotuskissen umherhüpft.
Gleich am Morgen entdeckten ihn zwei Brüder an den Ghats, zwei kleine, clevere Jungen, die schon vor ein paar Tagen erkannt hatten, dass Karime der Typ ist, der ihnen eine schelmische Bitte nach Keksen nicht abschlagen kann. Der Jüngere von beiden sprudelte schon am frühen Morgen vor Ideen, flitzte barfuß auf den Ghats umher und beeindruckte den coolen Karime mit ein paar gekonnten Stockhieben beim Stöckchenweitschießspiel. Solange, bis Karime das Zauberwort sagte: Drachen? Die beiden hatten keinen. Und Karime, fixiert von vier leuchtenden Augen, nun keine Wahl mehr. Schnell wurden aus zwei Brüdern drei; auf direktem Weg ging’s zum Shop an der Hauptstraße. Schnüre, Gestell, ein bisschen Tüte mit Holzstäben – all das konnte einen Tag verzaubern. Zurück auf den Terrassen wuchs das Dreiergespann zu einer kleinen Kinderbande heran. Fachmännisch wurden Drachen gebastelt, Schnüre befestigt und schon flatterten die fertigen Drachen im Wind. Bereits nach wenigen Minuten musste Karime den ersten Jungen mit Unterlippenschippchen trösten. Sein Drachen war zerbrochen. Und bevor das Schippchen und die großen Kulleraugen Karimes Herz gleich mitzerbrachen, wühlte er in seiner Tasche nach eine Münze, einer Drachenmünze, die den Tag zurückzaubern konnte. Karime war nun Held. Ein Held, der im Gewühl bald nicht mehr bemerkt wurde. Die Jungen waren unablenkbar ins Spiel vertieft. Fünf Rupees kostet ein Drachen; das sind 6 Cent – für 6 Cent einen Nachmittag lang beschämter Held für ein Dutzend Jungen sein.

Ein paar hundert Meter weiter rannte Karime in eine Bestattungszeremonie. Er zögerte, schaute und wurden angesprochen von einem jugendlichen Enkel des armen Kerls, der hier, eingewickelt in Tücher, auf seine Erlösung wartete. Der aufgewühlte Jungenahm das erste Mal an einer Beerdigung teil. Zum ersten Mal sah er die Feuerbestattung eines Familienmitglieds, seines Opas. So war es nicht verwunderlich, dass er in einen nervösen Redeschwall verfiel und inKarime einen guten Zuhörer fand, der ihn von seiner Trauer ablenken konnte. So wurde aus dem eingewickelten Kerl ein Mensch mit einer Geschichte, ein 72-Jähriger Mensch, der noch bis vor 10 Jahren als Kardiologe gearbeitet hatte. Der Junge zeigte auf Vater, Onkel, Cousins und anderen männliche Verwandte – die meisten waren Ärzte, die meisten kamen aus Rajasthan, aus Jaipur. Mitten in der Nacht, um 1 Uhr in der Früh, war der Kardiologe, der Großvater, plötzlich verstorben. Sein ältester Sohn musste die Zeremonie organisieren. Hier in Varanasi sollte es sein, der Heimatstadt der Familie. Karime fragte nach den Frauen. Sie durften nicht an der Verbrennung teilnehmen. So lautete die Tradition. Die Frauen und Kinder hatten sich zu Hause verabschiedet. Niemand sollte hier weinen, so dass die Seele des Verstorbenen nicht aufgehalten würde, dieser Geist, der bereits über der leeren Hülle des Opas schwebte. Der 17-Jährige war nun kein Kind mehr, alt genug zum stark sein. Doch seine Tränen wussten das noch nicht; jedenfalls kullerten sie dann doch die Wangen hinunter. Und Karime, der war nun kein Held mehr, doch blieb bis zum Ende der Zeremonie, blieb noch etwas länger, als das Feuer schon lichterloh brannte.

27.11.14 Sarnath

Karime liebt Varanasi so sehr, dass ich ihm einen Ausflug abringen muss. Ich möchteSarnath besuchen, ein kleines buddhistisches Örtchen außerhalb Varanasis. Hier soll vor etwa 2500 Jahren Buddha zum ersten Mal zu seinen Jüngern gesprochen haben. Ein Trieb des Bodhi Baumes, ein Feigenbaum, unter welchem Buddha zur Erleuchtung gelangte, wurde hier gepflanzt. Jedes Land mit buddhistischer Kultur hat einen Tempel in Sarnath. All das will ich sehen.
Wieder quetschen wir uns in einen Bus und fahren zur AsapurJunction. Varanasi ist doch sehr viel größer als wir dachten; bisher haben wir vor allem unsere Uferpromenade kennengelernt. An der AsapurJunction geht es mit der Rikscha nach Sarnath. Wir verlaufen uns direkt und klettern viele, viele Stufen zu einem Tempel hinauf, der sich, oben angekommen, als Hindutempel entpuppt. Doch kein buddhistisches Dorf… Drei Teenager sind uns gefolgt. Sie sehen ungemein stylisch aus, tragen alle das gleiche T-Shirt, enge Jeans, Sonnenbrille, gegelte Frisuren. Sie wollen, dass wir Fotos von ihnen schießen, posieren cool auf der Treppe und haben offenbar Spaß daran, dass wir nun Bilder von ihnen mit nach Germany nehmen. Eine Mini Boygroup. Doch wo sind die Mönche? Und wo ist der Bodhibaum? Ein 2500 Jahre alter Baum muss doch weit über die kleinen Häuschen Sarnaths hinausragen. Aber ja, so alt ist der Baum eigentlich gar nicht. Kaiser Ashoka hatte sich im 3. Jahrhundert unserer Zeit so leidenschaftlich und vermutlich auch zeitintensiv dem Buddhismus gewidmet, dass seine eifersüchtige Ehefrau aus Frust den Bodhibaum, der eigentlich in dem heutigen Dörfchen Bodhgaya stand, zerstörte. Zufälligerweise hatte Ashokas Tochter bereits einen Trieb in Sri Lanka gepflanzt, wo ein Abkömmling des wertvollen Baumes vor sich hin spross. Was für ein Glück! Erst sehr viel später konnte ein Stückchen des originalen Baumes also wieder nach Indien zurückkehren und wächst nun unter anderem in Bodhgayaund seit 1931 auch hier in Sarnath. Gegen Mittag stehen wir vor dem mittelgroßen Bäumchen, laufen einmal rundherum; ich sammele drei abgefallene Blätter vom Boden und erzähle Karime, dass ich zu Hause auch einen Bodhibaum pflanzen möchte. Er lacht mich aus. Und erklärt mir anschließend kurz die Grundlagen der Botanik.
Sarnath ist verschlafen. Touristenbusse halten an der Hauptattraktion, einer archäologischen Stätte mit großen von Ashoka errichteten Stupas. Wir wollen etwas essen und finden ein Bistro an der staubigen Hauptstraße, welches tatsächlich von unserem Reisebuch empfohlen wird. Die Wände bestehen aus Plastikplanen. Auch Stühle, Tische und Besteck sind aus Plastik, dazu gibt es gesponserte Sonnenschirme eines großen Brauseherstellers und wenig bis null Charme. Wir studieren das Menü, der Koch schlurft missmutig in die Küche und serviert uns nach 20 Minuten zwei unfassbar wohlschmeckende, in Aluschalen gebatschte, Currygerichte, die es locker in meine Top5 der besten Gerichte unserer Reisen schaffen werden.
Am Nachmittag machen wir einen Schnellkurs in internationaler Tempelkunde, besuchen den chinesischen, den burmesischen, den thailändischen, tibetischen und japanischen Tempel und beschließen beide sofort, dass unsere nächste große Reise unbedingt nach Japan gehen muss. Dieser bedächtig angelegte Garten, von simpler Schönheit, aufgeräumt, sauber, die gradlinige Architektur des Tempels, das flache, nach außen gebogene Dach, die bescheidene Zen-Ausstattung, die dunklen Kissen, der schöne Buddha – all das ist wie ein Segen nach drei Wochen organisiertem Chaos. Karime ist hin und weg.

Doch jetzt sind wir in Indien und der herangewunkene Bus bringt uns nicht zum erhofften Hauptbahnhof, sondern zu irgendeinem anderen Bahnhof Varanasis, an welchem wir nach heftigem Feilschen eine Fahrradrikscha besteigen und wieder ganz hineinfahren in diese enge, alte, verrückte, faszinierend wunderbare Stadt.


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